Warum es immer die anderen sind, die sich nicht an die Regeln halten und das Ende der Pandemie verzögern.
Der IT-Mensch bringt die neue Computerausrüstung für das Home-Office. Er
trägt nicht etwa einen dieser selbstgewebten Bekenntnislappen mit
Firmenlogo, auch nicht eine FFP-2-Maske, er trägt FFP-3. Höchste
Sicherheitsstufe. Den Schreibtisch desinfiziert er ausführlich, bevor er
sich an Anschluss und Installation macht. Erstaunlich, dass es solche
spendablen Arbeitgeber gibt. Noch erstaunlicher, wie vorbildlich der
Mann der Pandemie trotzt und dem Virus kein Schlupfloch bietet. Großes
Lob, Anerkennung, vielen Dank auch. Ihn kann Kanzlerin Merkel kaum
meinen, wenn sie eine weitere "harte Kraftanstrengung" fordert, um
dieses komische Weihnachten zu retten. Wenn sich nur alle so verhalten
würden!
"Sie sollten bei uns auf dem Land sein", sagt der Mann, "jeden Abend
Party." Dass Gaststätten und Restaurants geschlossen sind? Egal. Jeder
habe seine Garage, Hütte oder Scheune, in der es zur Sache geht. Die
Getränkemärkte sind ja weiterhin offen. Das ist diese Wir-und-ihr-Logik,
die sich jetzt überall zeigt. Im konkreten Fall: Bei euch, in der
feindlichen Großstadt, muss man sich schützen. Bei uns zu Hause auf dem
Land hingegen, da kennt man sich. Da kann man einander vertrauen. Und
wer sich vertraut, steckt sich nicht gegenseitig an, oder? Blöd nur,
dass sich das Virus von ländlicher Idylle nicht abhalten lässt. Wer sich
zuletzt die Kreise mit der höchsten Inzidenz eingeprägt hat, kann
demnächst bei "Stadt Land Fluss" mit Ortsnamen wie Traunstein,
Freyung-Grafenau, Hildburghausen oder Bautzen punkten.
Anderntags im Gespräch mit der Risikogruppe 70 plus. Die weiß
Bescheid. Natürlich ist es wichtig aufzupassen. Klar käme es jetzt
darauf an, Kontakte einzuschränken, um auf die Älteren und Kranken
Rücksicht zu nehmen. Selbstverständlich mache man mit, wo man selbst
dazugehöre. Was heute Nachmittag ansteht? Wie jede Woche das Treffen mit
den alten Freundinnen. Kaffee, Kuchen, Reden. Äh, ist das wirklich eine
gute Idee in Zeiten der angemahnten Kontaktreduzierung? "Aber das sind
doch Gerda, Elvira und Marlene, die kenne ich doch", kommt als Antwort.
"Wir sind doch unter uns."
Fast jeder findet sich besser als den Durchschnitt
Ein ganzes Land ist gerade unter sich. Eigenverantwortung ist
das Gebot der Stunde, und bis auf ein paar Spinner hilft jeder mit,
schnellstmöglich aus dem Schlamassel der Pandemie herauszukommen. So
weit die Theorie. Treiber der Pandemie? Ich doch nicht! Und wieso gibt
es dann nur "Teilerfolge", wie Kanzlerin Merkel am Mittwoch im Stile
einer übermüdeten Lehrerin sagte, die der Klasse mitteilt, dass die
Klausur nicht gewertet wird, weil sie so schlecht ausgefallen ist. Dabei
hält sich doch jeder an die Vorgaben. Genauso wie jeder
Verkehrsteilnehmer die Straßen sicherer macht. Erkundigt man sich im
Autoland Deutschland, kommt nämlich eine beruhigende Antwort: 90 Prozent
aller Autofahrer sind davon überzeugt, dass sie besser und
zuverlässiger fahren als alle anderen. Gut zu wissen, wenn auch
mathematisch schwierig.
Die Psychologin Cornelia Betsch kennt dieses Phänomen.
Regelmäßig alle ein bis zwei Wochen erfasst die Expertin für
Risikokommunikation von der Uni Erfurt, was die Deutschen von der
Pandemie halten und wie sie sich verhalten. Der Covid-19-Monitor (Cosmo)
zeigt, wie sehr die Erste Hilfe für jedermann leidet, also AHA+L-GGG
(Alltagsmasken, Hygiene, Abstand, Lüften minus größere Gruppen, Gedränge
und heftige Gespräche), wenn man "unter sich" ist. In Gesellschaft von
Freunden, Familie, Vertrauten - Psychologen nennen das "soziale
Verbundenheit" - wird seltener Maske getragen, weniger Abstand gehalten
und der Ekel ist geringer, wenn jemand beim Niesen oder Husten den Mund
nicht bedeckt oder kaum Abstand hält. "Die Risikowahrnehmung, sich mit
dem Virus zu infizieren, sinkt, wenn Bekannte dabei sind", sagt Betsch.
Der Sozialpsychologe unseres Vertrauens hat ein Bündel
Erklärungsansätze parat. Laut Dissonanztheorie sind Menschen keine
rationalen, sondern rationalisierende Wesen. Die Vorstellung, sich
anzustecken, führt zu "negativem Behagen" (Dissonanz) und infolgedessen
wird die Angst verringert durch Verdrängung, Verniedlichung und
Projektion auf andere. Was man selbst nicht haben möchte, schiebt man
anderen zu. Das entlastet und schützt obendrein den Selbstwert.
Wunschdenken spielt ebenfalls eine Rolle. Menschen glauben, dass
sie seltener an Krebs erkranken als Bekannte oder andere, aber dass die
Wahrscheinlichkeit, im Lotto zu gewinnen, höher ist als für Freunde.
Deshalb spielen viele Leute Lotto - und halten sich auch sonst für ganz
großartig. Ob Ehrlichkeit, Friedfertigkeit, Freundlichkeit - fast jeder
findet sich besser als den Durchschnitt. So vermuten 85 Prozent der
Führungskräfte bei BMW, dass sie die statistische Mitte weit
übertreffen; 85 Prozent der Dozenten an der
Ludwig-Maximilians-Universität glauben das ebenfalls, haben
Sozialpsychologen um Dieter Frey ermittelt. Klar, die schlechten
Autofahrer sind immer die anderen.
Das Risikoverhalten in Gruppen steigt, man erlebt sich als weniger verwundbar
Was für eine herrliche Pippi-Langstrumpf-Welt, in der man es
sich mit dieser Better-than-Average-Verzerrung gemütlich machen kann.
Ich bin besser als der Rest - und außerdem kann mir wenig passieren.
Psychologische Studien zeigen, dass Menschen die Wahrscheinlichkeit, bei
Steuerbetrug erwischt zu werden, geringer einschätzen, als dass andere
belangt werden. Sie halten sich für schlauer und glauben, bei
Grenzverletzungen nicht entdeckt zu werden. Für kriminelles Verhalten
gilt dies generell. Man lebt in der Illusion, unsichtbar zu sein, wie
das Kind, das die Augen verschließt. Und wenn doch etwas passiert, liegt
es bei den anderen am falschen Verhalten, bei einem selbst sind die
Umstände schuld.
Klar, es würde ja auch einen Kontrollverlust bedeuten, ständig
das Gefühl zu haben, infiziert zu sein. Diese psychische Disposition war
schon in den 90er-Jahren zu beobachten. Während die einen die
Möglichkeit ausschlossen, sich mit HIV anzustecken, weil das dem
gängigen Vorurteil zufolge "nur" Schwule, Prostituierte und ihre Freier
betraf, meldeten sich andere nach jedem ungeschützten Sex zum Test beim
Gesundheitsamt an. Psychologen wissen, dass Menschen, die von sich
glauben, viel unter Kontrolle zu haben, auch dazu neigen, die
Wahrscheinlichkeit einer Infektion zu unterschätzen.
Nach mindestens zehn Monaten Pandemie wiegen sich viele Menschen
zudem in gelernter Sorglosigkeit, dazu muss man kein Corona-Leugner
sein. Wird schon nichts passieren, und die positiv Getesteten im
Bekanntenkreis hatten milde Verläufe. "Wer lange genug ohne Unfall im
Nebel gefahren ist, bekommt das Gefühl, unverletzbar zu sein", sagt der
Sozialpsychologe Frey. "Diese Kontrollillusion sehen wir auch jetzt in
der Pandemie, weil es bisher in vielen Fällen gut gegangen ist." Die
anderen machen es schließlich auch so, wie sich täglich in den immer
noch vollen Städten und den Paraden der Halb-Maskierten sehen lässt. Das
Risikoverhalten in Gruppen steigt, man erlebt sich als weniger
verwundbar. Der Vordermann fährt im Nebel ja auch schnell.
Übrigens zeigt die Forschung, dass Depressive oder Ängstliche
anders reagieren. Sie überschätzen nicht permanent ihre Fähigkeiten,
sondern rechnen damit, immer die Opfer zu sein und den notorischen
Dachziegel auf den Kopf zu bekommen. Sie bewerten ihre Infektionsgefahr
als höher als die Nicht-Depressiven. Dieser Sadder-but-wiser-Effekt
besagt, dass Traurige oftmals klüger sind und zu einer realistischeren
Einschätzung der Realität kommen. Für den Kampf gegen die Pandemie ist
das eine geradezu trübsinnige Pointe: Die seelische Verstimmung in
Zeiten der Seuche könnte dabei helfen, sie besser zu überstehen.