Corona und menschliches Verhalten

Ich doch nicht 

Warum es immer die anderen sind, die sich nicht an die Regeln halten und das Ende der Pandemie verzögern.

Süddeutschen vom 1. Dezember 2020 LINK

Der IT-Mensch bringt die neue Computerausrüstung für das Home-Office. Er trägt nicht etwa einen dieser selbstgewebten Bekenntnislappen mit Firmenlogo, auch nicht eine FFP-2-Maske, er trägt FFP-3. Höchste Sicherheitsstufe. Den Schreibtisch desinfiziert er ausführlich, bevor er sich an Anschluss und Installation macht. Erstaunlich, dass es solche spendablen Arbeitgeber gibt. Noch erstaunlicher, wie vorbildlich der Mann der Pandemie trotzt und dem Virus kein Schlupfloch bietet. Großes Lob, Anerkennung, vielen Dank auch. Ihn kann Kanzlerin Merkel kaum meinen, wenn sie eine weitere "harte Kraftanstrengung" fordert, um dieses komische Weihnachten zu retten. Wenn sich nur alle so verhalten würden!

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"Sie sollten bei uns auf dem Land sein", sagt der Mann, "jeden Abend Party." Dass Gaststätten und Restaurants geschlossen sind? Egal. Jeder habe seine Garage, Hütte oder Scheune, in der es zur Sache geht. Die Getränkemärkte sind ja weiterhin offen. Das ist diese Wir-und-ihr-Logik, die sich jetzt überall zeigt. Im konkreten Fall: Bei euch, in der feindlichen Großstadt, muss man sich schützen. Bei uns zu Hause auf dem Land hingegen, da kennt man sich. Da kann man einander vertrauen. Und wer sich vertraut, steckt sich nicht gegenseitig an, oder? Blöd nur, dass sich das Virus von ländlicher Idylle nicht abhalten lässt. Wer sich zuletzt die Kreise mit der höchsten Inzidenz eingeprägt hat, kann demnächst bei "Stadt Land Fluss" mit Ortsnamen wie Traunstein, Freyung-Grafenau, Hildburghausen oder Bautzen punkten.

      

Anderntags im Gespräch mit der Risikogruppe 70 plus. Die weiß Bescheid. Natürlich ist es wichtig aufzupassen. Klar käme es jetzt darauf an, Kontakte einzuschränken, um auf die Älteren und Kranken Rücksicht zu nehmen. Selbstverständlich mache man mit, wo man selbst dazugehöre. Was heute Nachmittag ansteht? Wie jede Woche das Treffen mit den alten Freundinnen. Kaffee, Kuchen, Reden. Äh, ist das wirklich eine gute Idee in Zeiten der angemahnten Kontaktreduzierung? "Aber das sind doch Gerda, Elvira und Marlene, die kenne ich doch", kommt als Antwort. "Wir sind doch unter uns."

      

Fast jeder findet sich besser als den Durchschnitt

      

Ein ganzes Land ist gerade unter sich. Eigenverantwortung ist das Gebot der Stunde, und bis auf ein paar Spinner hilft jeder mit, schnellstmöglich aus dem Schlamassel der Pandemie herauszukommen. So weit die Theorie. Treiber der Pandemie? Ich doch nicht! Und wieso gibt es dann nur "Teilerfolge", wie Kanzlerin Merkel am Mittwoch im Stile einer übermüdeten Lehrerin sagte, die der Klasse mitteilt, dass die Klausur nicht gewertet wird, weil sie so schlecht ausgefallen ist. Dabei hält sich doch jeder an die Vorgaben. Genauso wie jeder Verkehrsteilnehmer die Straßen sicherer macht. Erkundigt man sich im Autoland Deutschland, kommt nämlich eine beruhigende Antwort: 90 Prozent aller Autofahrer sind davon überzeugt, dass sie besser und zuverlässiger fahren als alle anderen. Gut zu wissen, wenn auch mathematisch schwierig.

      

Die Psychologin Cornelia Betsch kennt dieses Phänomen. Regelmäßig alle ein bis zwei Wochen erfasst die Expertin für Risikokommunikation von der Uni Erfurt, was die Deutschen von der Pandemie halten und wie sie sich verhalten. Der Covid-19-Monitor (Cosmo) zeigt, wie sehr die Erste Hilfe für jedermann leidet, also AHA+L-GGG (Alltagsmasken, Hygiene, Abstand, Lüften minus größere Gruppen, Gedränge und heftige Gespräche), wenn man "unter sich" ist. In Gesellschaft von Freunden, Familie, Vertrauten - Psychologen nennen das "soziale Verbundenheit" - wird seltener Maske getragen, weniger Abstand gehalten und der Ekel ist geringer, wenn jemand beim Niesen oder Husten den Mund nicht bedeckt oder kaum Abstand hält. "Die Risikowahrnehmung, sich mit dem Virus zu infizieren, sinkt, wenn Bekannte dabei sind", sagt Betsch.

      

Der Sozialpsychologe unseres Vertrauens hat ein Bündel Erklärungsansätze parat. Laut Dissonanztheorie sind Menschen keine rationalen, sondern rationalisierende Wesen. Die Vorstellung, sich anzustecken, führt zu "negativem Behagen" (Dissonanz) und infolgedessen wird die Angst verringert durch Verdrängung, Verniedlichung und Projektion auf andere. Was man selbst nicht haben möchte, schiebt man anderen zu. Das entlastet und schützt obendrein den Selbstwert.

      

Wunschdenken spielt ebenfalls eine Rolle. Menschen glauben, dass sie seltener an Krebs erkranken als Bekannte oder andere, aber dass die Wahrscheinlichkeit, im Lotto zu gewinnen, höher ist als für Freunde. Deshalb spielen viele Leute Lotto - und halten sich auch sonst für ganz großartig. Ob Ehrlichkeit, Friedfertigkeit, Freundlichkeit - fast jeder findet sich besser als den Durchschnitt. So vermuten 85 Prozent der Führungskräfte bei BMW, dass sie die statistische Mitte weit übertreffen; 85 Prozent der Dozenten an der Ludwig-Maximilians-Universität glauben das ebenfalls, haben Sozialpsychologen um Dieter Frey ermittelt. Klar, die schlechten Autofahrer sind immer die anderen.

      

Das Risikoverhalten in Gruppen steigt, man erlebt sich als weniger verwundbar

      

Was für eine herrliche Pippi-Langstrumpf-Welt, in der man es sich mit dieser Better-than-Average-Verzerrung gemütlich machen kann. Ich bin besser als der Rest - und außerdem kann mir wenig passieren. Psychologische Studien zeigen, dass Menschen die Wahrscheinlichkeit, bei Steuerbetrug erwischt zu werden, geringer einschätzen, als dass andere belangt werden. Sie halten sich für schlauer und glauben, bei Grenzverletzungen nicht entdeckt zu werden. Für kriminelles Verhalten gilt dies generell. Man lebt in der Illusion, unsichtbar zu sein, wie das Kind, das die Augen verschließt. Und wenn doch etwas passiert, liegt es bei den anderen am falschen Verhalten, bei einem selbst sind die Umstände schuld.

      

Klar, es würde ja auch einen Kontrollverlust bedeuten, ständig das Gefühl zu haben, infiziert zu sein. Diese psychische Disposition war schon in den 90er-Jahren zu beobachten. Während die einen die Möglichkeit ausschlossen, sich mit HIV anzustecken, weil das dem gängigen Vorurteil zufolge "nur" Schwule, Prostituierte und ihre Freier betraf, meldeten sich andere nach jedem ungeschützten Sex zum Test beim Gesundheitsamt an. Psychologen wissen, dass Menschen, die von sich glauben, viel unter Kontrolle zu haben, auch dazu neigen, die Wahrscheinlichkeit einer Infektion zu unterschätzen.

      

Nach mindestens zehn Monaten Pandemie wiegen sich viele Menschen zudem in gelernter Sorglosigkeit, dazu muss man kein Corona-Leugner sein. Wird schon nichts passieren, und die positiv Getesteten im Bekanntenkreis hatten milde Verläufe. "Wer lange genug ohne Unfall im Nebel gefahren ist, bekommt das Gefühl, unverletzbar zu sein", sagt der Sozialpsychologe Frey. "Diese Kontrollillusion sehen wir auch jetzt in der Pandemie, weil es bisher in vielen Fällen gut gegangen ist." Die anderen machen es schließlich auch so, wie sich täglich in den immer noch vollen Städten und den Paraden der Halb-Maskierten sehen lässt. Das Risikoverhalten in Gruppen steigt, man erlebt sich als weniger verwundbar. Der Vordermann fährt im Nebel ja auch schnell.

      

Übrigens zeigt die Forschung, dass Depressive oder Ängstliche anders reagieren. Sie überschätzen nicht permanent ihre Fähigkeiten, sondern rechnen damit, immer die Opfer zu sein und den notorischen Dachziegel auf den Kopf zu bekommen. Sie bewerten ihre Infektionsgefahr als höher als die Nicht-Depressiven. Dieser Sadder-but-wiser-Effekt besagt, dass Traurige oftmals klüger sind und zu einer realistischeren Einschätzung der Realität kommen. Für den Kampf gegen die Pandemie ist das eine geradezu trübsinnige Pointe: Die seelische Verstimmung in Zeiten der Seuche könnte dabei helfen, sie besser zu überstehen.

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Von Corona-Lügen überflutet

Millionen Menschen sehen auf Facebook Desinformation über das Coronavirus. Eine Studie zeigt, dass die Plattform den Kampf gegen die Infodemie zu verlieren droht.

Radikale Ideologen der QAnon-Bewegung streuten die Links in geschlossenen Facebook-Gruppen. Ende Juli brauchte Facebook viele Stunden, bis es ein weiteres Video entfernte, das gefährliche Fehlinformationen enthält und das Virus verharmlost. Doch es gibt Lösungsvorschläge  Von Simon Hurtz, Süddeutsche vom 20. August

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Den angeblich so intelligenten Algorithmen war offenbar nicht aufgefallen, dass Millionen Menschen die Desinformation wie wild teilten.

Beide Beispiele stützen die These eines Berichts, den die spendenfinanzierte und seit Jahren mit dem Thema befasste Kampagnen-Plattform Avaaz am Mittwoch veröffentlicht hat. „Facebooks Algorithmus: Eine große Gefahr für die öffentliche Gesundheit“ überschreibt die Organisation die Untersuchung. „Facebook versucht zwar, Fehlinformationen zu bekämpfen“, sagt Kampagnendirektor Christoph Schott. „Trotzdem erreichen Seiten, die immer wieder Lügen und Verharmlosungen über das Coronavirus verbreiten, ein Millionenpublikum.“ Im vergangenen Jahr habe ein Netzwerk aus Seiten, die regelmäßig gefährliche Desinformation über Gesundheitsthemen teilen, rund 3,8 Milliarden Abrufe erzielt.

Allerdings muss man die Zahl vorsichtig behandeln. Zum einen ist sie nur ein grober Schätzwert. Facebook zeigt nicht genau an, wie viele Nutzer ein Posting in ihrer Timeline sehen, Avaaz hat den Wert aus anderen Zahlen abgeleitet. Zum anderen beziehen sich die 3,8 Milliarden auf sämtliche Inhalte, die das Netzwerk aus 82 Webseiten und 42 Facebook-Seiten verbreitet hat. Darunter sind auch Artikel, die gar nichts mit dem Virus oder anderen Gesundheitsthemen zu tun haben. Die Zahl beschreibt also die Gesamtreichweite des Netzwerks, nicht aber die Verbreitung einzelner Beiträge.

Facebook nennt die Methodik auf Nachfrage hypothetisch und ungenau. Außerdem verkenne Avaaz die Gegenmaßnahmen, die Facebook schon eingeleitet habe. Zwischen April und Juni habe man rund sieben Millionen Beiträge gelöscht, die gefährliche Fehlinformationen über das Virus verbreiteten. Mehr als zwei Milliarden Menschen seien auf Informationen seriöser Gesundheitsorganisationen wie der WHO geleitet worden.

Schott verteidigt seine Hochrechnung mit Verweis auf die russische Desinformationskampagne im US-Wahlkampf 2016: „Die haben ja auch nicht ausschließlich Stimmung gegen Clinton gemacht, sondern sich mit anderen Inhalten eine große Reichweite aufgebaut und dann immer wieder Propaganda eingestreut.“ Netzwerke für Desinformation existierten oft seit Jahren, seien strategisch aufgebaut und miteinander verknüpft worden. Die Akteure helfen einander gegenseitig, bestimmte Artikel zu verbreiten. Teils wurden Inhalte, die Facebook gelöscht hatte, anderswo leicht abgewandelt neu veröffentlicht oder übersetzt. Diese Kopien fallen durch Facebooks Raster und erreichen teils mehr Menschen als der ursprüngliche Beitrag.

Auch Frank Ulrich Montgomery, Präsident des Weltärztebundes, sieht die Plattformen in der Pflicht. „Das Problem betrifft nicht nur Facebook, sondern auch Youtube und eigentlich alle sozialen Netzwerke“, sagt er. „Es geht gar nicht nur um die Menschen, die völlig absurde Verschwörungserzählungen über Bill Gates glauben. Die kann man nicht ernst nehmen.“ Sorgen bereiteten ihm vor allem zwei Gruppen: „Das sind einmal die Impfverweigerer, die das Leben ihrer Kinder riskieren. Und jene Menschen, die daran zweifeln, dass Covid-19 gefährlich ist und etwa irreführende Vergleiche mit der Grippe verbreiten. Wenn solche Behauptungen einmal viral gehen, kann die Wissenschaft fast nichts tun, um das wieder einzufangen.“

Avaaz macht zwei Lösungsvorschläge: „Correct the record“ und „Detox the Algorithm“. Seit April blendet Facebook Nutzern Hinweise ein, wenn sie zuvor mit Beiträgen interagiert hatten, die Fehlinformationen über Covid-19 enthalten. Diese Warnungen müssten spezifischer werden und mehr Menschen angezeigt werden, fordert Avaaz. Bislang verweist Facebook allgemein auf die WHO, ohne Nutzern zu sagen, warum sie den Hinweis sehen, welchen Inhalt sie zuvor gelikt oder geteilt haben und warum Behauptungen falsch sind. „Jede Untersuchung zu diesem Thema zeigt, dass konkrete Korrekturhinweise helfen können“, sagt Schott. „Menschen glauben den Fehlinformationen dann deutlich seltener.“ Außerdem sei die Zielgruppe, die informiert wird, zu klein. „Ich verstehe ja, dass Facebook diese Hinweise zurückhaltend einsetzt, weil sie den Platz für Anzeigen wegnehmen“, sagt Schott. „Aber überlegen Sie doch mal selbst: Wie oft klicken Sie wirklich auf ‚Gefällt mir‘? Den Großteil der Beiträge sieht man nur, ohne damit zu interagieren. Auch diese Menschen sollte Facebook nachträglich warnen und Richtigstellungen anzeigen.“

Die zweite Forderung betrifft Facebooks Empfehlungsalgorithmen, die Nutzern automatisiert Inhalte vorschlagen – darunter Videos wie den „Plandemic“-Clip und extremistische Propaganda. Oft funktionieren solche Inhalte sogar besonders gut, weil sie emotional wirken und Menschen zum Teilen verleiten. Der Algorithmus verschafft den Beiträgen dann zusätzliche Aufmerksamkeit. Zwar wertet Facebook Seiten ab, die wiederholt Inhalte teilen, die unabhängige Faktenprüfer als falsch einstufen. „Wie genau diese Drosselung funktioniert, wann sie greift, und wer davon betroffen ist, bleibt aber völlig intransparent“, sagt Schott.

Dass Facebook aus Fehlern lernt, zeigt ein Video, das in der Nacht auf Mittwoch veröffentlicht wurde. Es ist der direkte Nachfolger des ersten „Plandemic“-Teils und enthält zahlreiche Lügen. Diesmal zögerte Facebook nicht, sondern reagierte: Es blockiert sämtliche Links auf das Video. Statt Millionen Menschen erreicht der Clip bislang nur ein paar Zehntausend – die vermutlich ohnehin nicht mehr für wissenschaftliche Argumente empfänglich sind. 

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