Engagement – auch in der Schule

Sankt Martin als Vorbild
Die Tugend des Teilens – eine vergessene europäische Leitkultur. Sie kann für mehr Wohlstand sorgen, für mehr Sicherheit und für mehr gesellschaftlichen Frieden

Von Heribert Prantl

Mehr…

Sankt Martin als Vorbild
Die Tugend des Teilens – eine vergessene europäische Leitkultur. Sie kann für mehr Wohlstand sorgen, für mehr Sicherheit und für mehr gesellschaftlichen Frieden

Von Heribert Prantl

Wenn man nach einer europäischen Leitfigur sucht, stößt man auf einen, den die Kinder in diesen Tagen mit Laternenumzügen, mit Rabimmel und Rabammel feiern. Und wenn man nach einer europäischen Leitkultur sucht, dann stößt man auf eine Tugend, die der so Gefeierte verkörpert: Sankt Martin ist der Heilige des Teilens; er ist einer, den Katholiken, Orthodoxe, Protestanten und Anglikaner gleichermaßen verehren, er ist eine Gestalt aus den Urtagen Europas. Martin Luther, der Reformator, ist nach diesem Sankt Martin benannt, weil er am Vorabend des Martinstags, also am 10. November geboren wurde, und dann, wie damals üblich, den Namen des Heiligen des nächsten Tages, seines Tauftages erhielt.

Die Legende, die sich mit Sankt Martin verbindet, geht so: Bevor er, es war im vierten nachchristlichen Jahrhundert, Bischof von Tours wurde, war er römischer Soldat in der kaiserlichen Reiterei. An einem Wintertag begegnete ihm ein frierender Bettler. Weil Martin außer seinen Waffen, seinem Militärmantel und seinem christlichen Glauben nichts bei sich trug, teilte er den Mantel mit dem Schwert und gab die eine Hälfte dem Armen. In der Nacht, so die Legende, sei ihm dann im Traum Christus erschienen – bekleidet mit dem halben Mantel, den Martin dem Bettler geschenkt hatte. Es ist dies eine Illustration zum Matthäus-Evangelium über das Weltgericht, in dem es heißt: „Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet (...) Was ihr einem von meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan.“

Martins Mantel, lateinisch cappa, gehörte dann seit der Merowingerzeit zum Kronschatz der fränkischen Könige und reiste mit ihrem Hof von Pfalz zu Pfalz. Der Name Kapelle leitet sich von der Räumlichkeit, in der diese Cappa aufbewahrt wurde; und die Geistlichen, die die Cappa begleiteten, waren die Kapellane. Vielleicht wäre es gut, wenn die EU-Kommissare heute nicht Kommissare, sondern Kapellane heißen würden – um damit deutlich zu machen, was eigentlich essenziell zu Europa gehört oder gehören sollte: Die Kultur des Teilens, also soziale Gerechtigkeit.

Fast so schön wie im zitierten Matthäus-Evangelium vom Weltgericht ist die Kultur des Teilens an einer anderen Stelle formuliert. Dort heißt es: „Die Stärke eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen“. Das klingt wie ein Leitspruch zu den Verhandlungen zur Jamaika-Koalition, den der Paritätische Wohlfahrtsverband in Greenpeace-Manier an die Fassade der Parlamentarischen Gesellschaft gehängt haben könnte. Der provozierende Spruch stammt aber aus der Präambel der Schweizerischen Verfassung.

Bemerkenswert ist der Satz, weil die Stärke eines Volkes, die Stärke eines Staates regelmäßig an ganz anderen Faktoren bemessen wird: Die einen messen sie am Bruttosozialprodukt und am Exportüberschuss, die anderen reden dann vom starken Staat, wenn sie mehr Polizei, mehr Strafrecht und mehr Gefängnis fordern. Kaum jemand redet von der „Stärke eines Volkes“, wenn es darum geht, einen Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde durchzusetzen. Kaum jemand sagt starker Staat oder starkes Volk, wenn er die Verknüpfung von Sozial- und Bildungspolitik meint oder eine humane Flüchtlingspolitik. Und noch niemand hat an die Stärke der mitteleuropäischen Völker appelliert, um so dafür zu werben, den armutsgeplagten Griechen die Schulden zu erlassen. Sankt Martin als europäische Leitfigur kann helfen, Stärke neu zu definieren.

Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen: Das ist ein starker Satz, auch wenn die Bezeichnung „Schwache“ infiziert ist von den Ausschließlichkeitskriterien der Leistungsgesellschaft. Ein starker Staat ist ein Staat, der für die Angleichung der Lebensverhältnisse sorgt, sich ums Wohl der Schwachen und Behinderten kümmert und dabei lernt, dass sie nicht so schwach sind, wie man oft meint und dann ihre Stärken, die Stärken des Imperfekten, zu schätzen lernt.

Sankt Martin ist ein Heiliger unserer Tage – nicht nur, w eil er sich rühren ließ von der Not des Bettlers. Aber auch das wäre ja schon viel. Deutschland ist ein Land, in dem in den vergangenen Jahren Woche für Woche Tausende auf die Straße gegangen sind, die sich nicht rühren ließen von fremdem Leid; Deutschland ist ein Land, in dem Häuser beschmiert und in Brand gesteckt werden, die für Flüchtlinge hergerichtet wurden. Deutschland ist aber auch ein Land, in dem Zehntausende Menschen Flüchtlingen zur Seite stehen. Deutschland erlebt einerseits Fremdenfeindlichkeit, es erlebt andererseits auch und noch immer eine hohe Zeit der Bürgertugend. Deutschland ist hin- und hergerissen.

Es gibt eine zweite wunderbare St.- Martin-Geschichte, die viel weniger bekannt ist als die von der Teilung des Mantels – die aber einer humanen Zivilgesellschaft Mut machen kann. Der Theologe und Sozialwissenschaftler Franz Segbers hat sie ausgegraben; Segbers ist vor dreißig Jahren, aus Protest gegen die Repression der lateinamerikanischen Befreiungstheologie durch den Vatikan, aus der katholischen Kirche ausgetreten und in die kleine alt-katholische Kirche eingetreten.

Diese zweite Martins-Geschichte steht im „Goldenen Legendenbuch“: Es gab damals, zur St.-Martin-Zeit, bereits einen christlichen Kaiser, Theodosius. Er hatte das Christentum zur Staatsreligion gemacht und die Kirche reichlich mit Privilegien ausgestattet. Die Gegenleistung: Die Kirche sollte Stütze des Reiches und seiner Herrschaft sein. Doch nicht mit Martin. Er war zum Bischof von Tours gewählt worden – und er nahm seinen Bischofstitel ernst: „Vater der Armen“. Also wollte er sich beim Kaiser für die Armen einsetzen. Aber der Kaiser wollte nicht hören und nicht helfen. Er hielt die Tore seines Palastes fest verschlossen. Ein zweites und ein drittes Mal kam Martin zum Kaiser, vergebens. Danach streute er Asche auf sein Haupt und fastete und betete eine Woche lang. Dann ging er auf seines Engels Geheiß noch einmal zum Palast und kam, durch verschlossene Tore, bis vor den Kaiser. Der blieb trotzig auf seinem Stuhl sitzen. Im „Goldenen Legendenbuch“ heißt es dann wörtlich: „Da bedeckte plötzlich Feuer den königlichen Thron und brannte den Kaiser an seinem hinteren Teil, dass er voll Zorn musste aufstehen. Und der Kaiser bekannte, dass er Gottes Macht hatte gespürt. Er umarmte den Heiligen und bewilligte ihm alles, noch ehe er darum bat.“ Diese Geschichte hat ihre eigene Wahrheit und Poesie. Sie besagt: Solchen Politikern soll man Feuer unterm Hintern machen. Es geht nicht nur um Almosen, es geht um Recht. Justitia wird mit einer Augenbinde dargestellt, weil sie ohne Ansehen der Person urteilen soll. Das ist ein wichtiger Rechtsgrundsatz. Aber es tut diesem Rechtsgrundsatz gut, wenn er durch eine andere Rechtsvorstellung ergänzt wird. Die besteht darin, dass man das Elend sieht; dass man die Armen sieht, die zu ihrem Recht kommen sollen. Was Ihr dem Geringsten getan habt...: Dieser Satz ist ein zentraler Satz einer sozialen und humanen Politik. Er ist eine Realvision. Es sollte mehr real sein denn Vision.

Eine Politik des Teilens ist keine Politik der Gnade; sie ist viel mehr. Es geht nicht nur um ein bisschen Barmherzigkeit. Es geht um Recht. Gnade ist heilsam. Gnade ist ein Segen. Aber Gnade hat auch eine problematische Eigenschaft: Wo sie waltet, gibt es einen, der sie gewährt, und einen, der sie empfängt. Es gibt ein Oben und ein Unten. Für Gnade hat man dankbar zu sein. Wer von anderer Leute Gnade lebt, ist abhängig und unfrei. Gnade kann man nicht einfordern. Deshalb ist Gnade meistens schön für den, der gnädig sein kann, nicht immer aber für den, der auf sie angewiesen ist. Gnade adelt ihren Geber, aber sie erniedrigt ihren Empfänger. Mit Gnade kann man Menschen demütigen. Mit Gnade kann man beleidigen. Mit Gnade kann man jemanden gering machen.

Gnade kann nicht Recht ersetzen. Die beste Gnade ist die, die zum Prinzip des Rechts wird. Ist es gut, das, was Schwache nötig haben, der Gnädigkeit der Starken und der Besitzenden zu überlassen? Ist es gut, wichtige soziale Aufgaben den Stiftungen, den Spendern und Spenden zu überlassen – und ein Heer von Sponsoring-Trüffelschweinen auszubilden, die auf den Sozialmarkt geschickt werden, um sie auszugraben? Oder ist es besser, das, was Schwache nötig haben, zu einem Recht der Schwachen und Bedürftigen zu machen?

Ist es Recht, Zäune aus Stacheldraht zu ziehen, auf dass der Wohlstand in den EU-Landen bleibe und die Armut draußen? Ist es Recht, wenn die Europäerinnen und Europäer ihre Kleidung unter erbärmlichen Umständen in Asien herstellen lassen? Ist es Recht, wenn die billigst hergestellte Kleidung dann später als Secondhand-Spende nach Afrika geht, wo dann deswegen die dortige Textilindustrie den Bach herunter geht? Ist es Recht, wenn schwimmende Fischfabriken aus Europa und den USA vor den Küsten Afrikas alles wegfangen, was zappelt? Wenn, dank der EU-Subventionen, europäisches Geflügel und europäische Butter in Afrika billiger sind, als es die einheimischen Produkte sind? Ist es Recht, wenn Deutschland nach wie vor zu den größten Waffenproduzenten und Waffenexporteuren der Welt zählt?

Ja , es ist dies leider Recht, weil nationale und internationale Gesetze dieses Unrecht zu Recht machen. Es ist eine Aufgabe von Anwälten der Menschenrechte, die zu diesem Zweck nicht Juristen sein müssen, Kritik daran zu üben – und anzuklagen, wenn Recht dem Unrecht assistiert.

Kritiker verwechseln soziale Gerechtigkeit oft mit absurder Gleichmacherei – oder mit Moral, die in der Politik nichts zu suchen habe. Eine Politik, die zugleich die schwarze Null und Steuersenkungen fordert, ist aber nicht unmoralisch, sondern dumm. Eine Verteilungspolitik, die für mehr Ausgleich sorgt, ist dagegen eine Sache der wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Vernunft. Sie sorgt für mehr Wohlstand, mehr Sicherheit und für mehr gesellschaftlichen Frieden. Das Übel, dass manche Leute ein schlechtes Leben führen, besteht nicht darin, dass andere Leute ein besseres Leben führen; das Übel liegt vor allem darin, dass schlechte Leben schlecht sind. Und das Gute ist, dass, auch mittels derer, die ein besseres Leben führen, denjenigen geholfen werden kann, deren Leben schlecht ist.

Wie viel Mantel braucht der Mensch? Einen halben, einen ganzen? Genügt ein Topflappen? Es gibt Menschen, die für ein Zipfelchen Mantel ihr Leben riskieren. Der Mensch braucht zumindest so viel Mantel, dass er Mensch sein kann. Das ist die Botschaft des Sankt Martin, das ist die Mahnung am Sankt-Martins-Tag.

Quelle: Verlag Süddeutsche Zeitung
Datum: Samstag, den 11. November 2017
Seite 24

Weniger…

Socken mit Gehirn

Die moderne Sportkleidung weiß viel über ihren Träge

Smog ist kein Grund, auf Sport zu verzichten. Profis setzen sich eine „intelligente“ Atemschutzmaske auf, starten eine Fitness-App – und joggen ungerührt durch Stuttgart oder Peking. Die „Athelete’s Mask“ wurde für Regionen mit starker Luftverschmutzung entwickelt. Ein „Airflow-System“ soll dem astronautenartig durch die lebensfeindliche Welt rennenden Sportler eine halbwegs natürliche Atmung ermöglichen. Sie misst detailliert die Leistungsdaten des Athleten – was bislang nur im Labor möglich war.

Mehr…

Joggen ist ja auch ohne digitale Helfer möglich. Aber für viele Amateursportler zählt nur, was sich hinterher in einer App abrufen lässt: verbrauchte Kalorien, zurückgelegte Strecke, Dauer, Schrittfrequenz. Bereits 2016 wurden weltweit mehr als 150 Millionen digitale Trainings-Gagdets verkauft – Fitnessarmbänder, Sportuhren, Schuhe mit eingebauten Chips, Bekleidung mit integrierten Sensoren. Auf der Ispo, der größten Sportmesse der Welt, die am Wochenende in München beginnt, nehmen diese sogenannten Wearables einen immer größeren Bereich ein. Der Markt wächst rasant. Auf der Messe wird auch ein „intelligenter BH“ zu bestaunen sein. Dünne, flexible Elektroden sind darin eingewebt, sie erfassen Herzfrequenz- und Bewegungsdaten der Sportlerin. Die smarten Stoffe verlieren ihre Leitfähigkeit auch nicht, wenn man sie wäscht. Der BH sendet Daten ans Smartphone, dieses verbindet sich mit einem Onlineportal, sodass man hinterher die Trainingseinheit abrufen und analysieren kann. Ähnlich funktionieren digitalisierte Socken, die aufzeichnen, wie der Fuß beim Joggen abrollt. Die allerschlauesten Sportklamotten denken nicht nur mit, sie greifen auch ins Geschehen ein. Das „Agility Shirt“ eines Schweizer Herstellers zeichnet die Bewegungsdaten des Sportlers auf, ein Amateur-Tennisspieler kann dann nach dem Training in Zeitlupe und in 3-D studieren, wie dilettantisch sein Aufschlag ist. Außerdem kann das Multifunktions-Shirt angeblich auf den körperlichen Zustand des Athleten reagieren; textile Sensoren wirken positiv auf die Blutzirkulation und die Sauerstoffversorgung der Haut ein. Andere Hersteller haben Ammoniak-Sensoren in die Sportkleidung eingearbeitet, die anhand der Schweißzusammensetzung eine körperliche Überbelastung feststellen können und vor Erschöpfung warnen – falls der Mensch nicht selbst merkt, wann ihm die Puste ausgeht. Schlaue Socken, mitfühlende Trikots – muss man befürchten, dass Trainingshosen bald intelligenter sind als ihre Träger? Wohl kaum. Sorgen muss man sich eher um den Datenschutz machen. Die Verbraucherzentrale NRW hat Fitnessarmbänder getestet und dabei gravierende Mängel festgestellt. Fast alle Wearables senden Nutzerdaten an die Server des Anbieters, darunter auch Bewegungsprofile, Adressen und Gesundheitsangaben wie Herzfrequenz und Gewicht. Über die Verwendung dieser sensiblen Daten werde nicht hinreichend aufgeklärt, kritisiert die Verbraucherzentrale. Neun Anbieter, unter ihnen die Marktführer Apple, Garmin, Polar und Runtastic, wurden von den Datenschützern wegen ziemlich unsportlicher Verstöße abgemahnt. Smarte Unterwäsche verrät oft mehr, als dem Sportler lieb ist. Titus Arnu 

Verlag Süddeutsche Zeitung, Freitag, 26. Januar 2018, Seite 1

Weniger…

Fremde im Bett

Wie zugewanderte Tiere und Pflanzen die Natur schädigen

Das Drüsige Springkraut ist eine jener Pflanzen, über die sich Hobbygärtner im Frühjahr eher weniger freuen. Mit ihren rosafarbenen Blüten sieht das ursprünglich aus Indien stammende Gewächs zwar ganz hübsch aus. Doch erfahrene Gartenbesitzer wissen: Wo diese Pflanze wächst, da wächst sonst nichts mehr. Nicht einmal Brennnesseln haben eine Chance gegen sie.

Mehr…

Das Springkraut gehört zu den sogenannten invasiven Arten, die sich in Regionen ausbreiten, in denen sie ursprünglich nicht vorgekommen sind und dort in der Natur großen Schaden anrichten. Ein internationales Forscherteam hat jetzt Daten von 6414 gebietsfremden Tier- und Pflanzenspezies in 20 Ländern ausgewertet. Etwa ein Fünftel davon sei ähnlich wie das Springkraut invasiv und eine Gefahr für andere Lebewesen in ihrer neuen Heimat, berichten die Wissenschaftler in der Fachzeitschrift Scientific Data.

Für die Europäische Union gibt es bereits seit Juli 2016 eine Art schwarze Liste invasiver Arten. Die dort aufgeführten Spezies gelten als derart gefährlich, dass es verboten ist, sie in die EU einzuführen, sie zu halten oder mit ihnen zu handeln. 2017 wurde die Liste erweitert und umfasst derzeit 49 Tier- und Pflanzenarten. 32 von ihnen kommen auch in Deutschland vor. Der Waschbär zum Beispiel, der als Pelzlieferant aus den USA eingeführt wurde. Im Jahr 1934 wurden die Allesfresser in Hessen bewusst ausgesetzt. Mittlerweile sind sie zumindest in einigen Regionen Deutschlands zur Plage geworden. Unter anderem im Großraum Kassel schreckt das Tier immer wieder Menschen aus dem Schlaf, weil es nachts auf der Suche nach Futter auf dem Dachboden herumrumpelt. Waschbären fressen außerdem geschützte Amphibien und machen bodenbrütenden Vögeln wie dem Kiebitz den Garaus.

Auf der EU-Liste der unerwünschten Arten steht auch die Nilgans, die ursprünglich aus Ägypten stammt und als Ziergeflügel nach Europa gebracht wurde. Jetzt fallen die Vögel in Getreidefelder ein, und in so manchem Freibad kann man kaum einen Schritt tun, ohne befürchten zu müssen, in Gänsekot zu treten. Zudem sind Nilgänse extrem aggressiv. Es soll vorgekommen sein, dass sie Weißstörche aus ihrem Nest vertrieben haben – Vögel, die in Deutschland unter strengem Schutz stehen.

In der Kategorie Pflanzen steht neben dem Springkraut auch der aus dem Kaukasus stammende Riesenbärenklau auf der EU-Liste der gefährlichen Eindringlinge. Die Pflanze verdrängt nicht nur einheimische Gewächse, sondern ist zudem auch giftig. Ihr Saft enthält Furocuramin, das die Haut verätzt und Wunden hinterlässt, die nur langsam heilen.

Haben sich solche Invasoren in ihrer neuen Heimat erst einmal etabliert, ist es fast unmöglich, sie wieder loszuwerden. Viele Umweltschützer sehen in der Ausbreitung dieser Spezies eine ernsthafte Gefahr für die Artenvielfalt. Andere plädieren für mehr Gelassenheit gegenüber den Einwanderern. Auch die gerade veröffentlichte Studie ließe sich in diesem Sinn interpretieren: Dass ein Fünftel der Eindringlinge nach Einschätzung der Wissenschaftler Schaden anrichtet bedeutet ja umgekehrt, dass vier Fünftel von ihnen harmlos sind. Tina Baier

Süddeutsche Zeitung
Dienstag, 30. Januar 2018, Seite 1

 

Weniger…

Sünde, was sonst?

Die Deutschen lieben Kaffeekapseln. Jährlich entstehen so 8000 Tonnen Müll – für Umweltschützer „heller Wahnsinn“

Die Dame im Nespresso-Laden weiß sofort Bescheid. Nein, mit dem Recycling gebe es kein Problem. „Man muss die Kapsel nur in die Tonne für Verpackungsmüll werfen.“ Aus der wandere das kleine Alu-Hütchen gewissermaßen direkt in den Schmelzofen. „Das restliche Kaffeepulver innendrin dient als Brennstoff.“ Auf den Bildschirmen im Hintergrund läuft das passende Filmchen dazu. Aus benutzten Kaffeekapseln wird darin glänzendes Aluminium, in langen, silbrigen Stangen. „Leisten Sie Ihren Beitrag: Recyceln Sie Ihre Kapseln“, ermuntert ein Flyer. Auch die Nespresso-Mutter Nestlé weiß: Die Ökobilanz könnte den Kaffeegenuss trüben.

Mehr…

Denn so einfach ist die Sache mit dem Recycling nicht. Auf den Balearen sind die Kapseln Teil eines ausgewachsenen Müllproblems – und könnten nun sogar verboten werden. Weil Touristen dort mehr Unrat hinterlassen, als die Ferieninseln verkraften, sollen nach dem Willen der Regionalverwaltung spätestens 2020 schärfere Regeln gelten. Auf Mallorca, Ibiza, Formentera und Menorca soll es nur noch Abfälle geben, die sich sauber recyceln lassen oder aber biologisch abbaubar sind. Viele Kaffeekapseln, beliebt auch in Hotels, würden so von den Inseln verbannt. Umweltschützer freuen sich.

Seit sie Mitte der Achtziger auf den Markt kamen, gelten die Kapseln als Umweltsünde. Tasse für Tasse ist hier in extra Aluminium-Döschen verpackt, eine Maschine brüht mit viel Druck das Aroma heraus. Die Kapsel mit dem feuchten Kaffeepulver wandert in den Müll. In Hamburg sollen Angestellte der Stadt deshalb auf den Kauf der Maschinen verzichten: „Diese Portionsverpackungen führen zu einem unnötigen Ressourcenverbrauch und Abfallaufkommen und enthalten häufig umweltschädliches Aluminium“, heißt es in einem Leitfaden der Verwaltung.

Nicht nur wird das Aluminium unter immensem Energieverbrauch und zu miserablen Umweltbedingungen gewonnen. Beim Recycling verunreinigen oft „organische Anhaftungen“ des Kaffees den Stoff. Zwar betreibt der deutsche Recycling-Riese Remondis in Holland eine Anlage, die Kaffee und Alu trennen kann – doch dort landet nur ein Bruchteil der Kapseln. Noch schwieriger wird es bei Kapseln aus Kunststoff, die per Aludeckel verschlossen sind. Selbst modernste Sortieranlagen können das eine vom anderen nicht trennen. So landen Kapseln samt Kaffee am Ende nicht selten in der „thermischen Verwertung“ statt im Recycling: Sie werden verfeuert.

Den Siegeszug der Kaffeekapsel haben derlei Probleme nicht stoppen können. Während der Absatz konventionellen Filterkaffees 2016 leicht sank, legte der von Kaffeekapseln um fast vier Prozent zu. Nach Zahlen der Deutschen Umwelthilfe fielen 2016 hierzulande 8000 Tonnen Kapsel-Müll an. „Der helle Wahnsinn“, sagt Thomas Fischer, Abfallexperte bei dem Verband. „Es kann doch ökologisch nicht sinnvoll sein, grammweise Kaffee abzupacken.“ Daran änderten auch Recycling oder biologisch abbaubare Stoffe nichts. Zumal der frische Kaffee auch bei Nespresso nicht in recyceltem, sondern in lupenreinem Neu-Aluminium verpackt wird. „Daran arbeiten wir noch“, sagt die Verkäuferin. Michael Bauchmüller

Süddeutsche Zeitung
Samstag, 27. Januar 2018, Seite 1

Weniger…

Der richtige Ton

Künstlerisch interessierte Ärzte verstehen Patienten besser

Was für ein Arzt! Er zitiert Goethe und Benn, in seiner Freizeit spielt er Geige, und die Einladungen zur Hausmusik mit seinem Mediziner-Trio sind sehr begehrt. Ach ja, den richtigen Ton gegenüber Patienten trifft er auch, zudem zeichnen sich seine Therapieempfehlungen durch Weisheit, Wärme und große Menschlichkeit aus. Ungefähr so muss man sich das Klischee vom rundum gebildeten, künstlerisch interessierten Arzt vorstellen, der Kranke nicht nur medizinisch kuriert, sondern auch mit kulturellen Zugaben die Genesung beschleunigt.

 

Mehr…

Der Doktor als Freund der Musen tut womöglich mehr für die Gesundheit, als das Stereotyp vom Bildungsbürger im weißen Kittel vermuten lässt. Eine Analyse im Journal of General Internal Medicine zeigt: Angehende Ärzte mit Neigung zu Musik und Kunst bringen mehr Empathie gegenüber Patienten auf und gehen emotional intelligenter auf Nöte der Kranken ein als der Fachidiot. Zudem sind sie besser vor Burn-out geschützt.

Mehr als 700 zukünftige Doktoren wurden in die aktuelle Erhebung einbezogen. Wer ein Instrument spielte, häufiger Konzerte und Ausstellungen besuchte und ins Theater ging, zeigte sich seltener ausgelaugt und erschöpft, war offener gegenüber Neuem und empfänglicher für die Gefühle seiner Mitmenschen. Der Kunstgenuss wirkte sich zudem positiv auf das eigene Wohlbefinden aus.

„Kunst und Medizin haben sich in den vergangenen 100 Jahren immer weiter auseinanderentwickelt“, sagt Studienautor Salvatore Mangione von der Jefferson University in Philadelphia. „Unsere Befunde sprechen dafür, die linke und die rechte Hirnhälfte zusammenzuführen – zum Wohle der Patienten wie der Ärzte.“ Medizin-Fakultäten sollten Studierende daher ermutigen, sich auch mit Literatur, Musik und Kunst zu beschäftigen.

„Wir leiten angehende Ärzte an, ihre künstlerische Seite nicht zu vernachlässigen, gerade wenn sie viel zu tun haben“, sagt Claudia Spahn, Ärztin und Pianistin, die mit ihrem Mann Bernhard Richter, Arzt und Sänger, das Institut für Musikermedizin an der Uniklinik Freiburg leitet. „Das entspannt und trägt sie auch durch schwierige Phasen mit Prüfungsstress oder anderen Belastungen.“

Thure von Uexküll, Nestor der Psychosomatik und Reformer des Medizinstudiums, hat schon vor Jahren vorgeschlagen, anstelle des Physikums ein „Philosophikum“ einzuführen. Statt nur Physik, Chemie und Biologie zu pauken, sollten angehende Ärzte sich auch mit Geisteswissenschaften, Sprache und Kunst auseinandersetzen. Wer die Tragödien großer Literatur und Gefühlsaufwallungen guter Musik nicht kennt, hat womöglich auch weniger Verständnis für Bedürfnisse von Patienten zwischen Leid, Hoffnung und Tod.

Lieber ein versierter Operateur als ein Musikfreund, der das chirurgische Handwerk nicht versteht, sagen Ärzte, wenn sie der hohe Anspruch nervt. Dabei muss es sich nicht ausschließen, virtuos mit Cello und Skalpell umzugehen. „Es ist wichtig, nicht nur auf Numerus clausus und Naturwissenschaften zu achten, sondern auch andere Interessen zu kultivieren“, sagt Musikermedizinerin Spahn. „Sonst werden Ärzte zu reinen Wissensmaschinen. Im Patientenkontakt hilft das nicht unbedingt weiter.“ Werner Bartens

Süddeutsche Zeitung
Mittwoch, 31. Januar 2018, Seite 1

Weniger…

Jetzt mal anders

Psychologen erkennen immer klarer, wie wandelbar Persönlichkeit ist, und suchen nach Wegen, diese gezielt zu verändern. Ist das nun Fluch oder Segen für alle, die gegen ihre Macken ankämpfen? Süddeutsche vom 25. Januar 2020 von Sebastian Herrmann

Mehr…

Der Hader lauert immer irgendwo im Gestrüpp der eigenen Unzulänglichkeiten, stets bereit, seine Zähne in die wunde Seele zu schlagen. Es reichen Kleinigkeiten, um ihn hervorzulocken und an sich selbst zu leiden. Vielleicht hat sich in der Arbeit mal wieder die Zeit irgendwo im Internet aufgelöst. Nachrichtenseiten, Texte, Fotos, Filme, Tweets haben so laut "klick mich, klick mich!" geplärrt, dass es nicht anders ging, als sich abzulenken und rumzutrödeln. Zack, war der Tag vorbei und nichts erledigt. Mist.

Ach, wäre ich doch nur gewissenhafter, hätte mehr Selbstkontrolle und würde die Dinge gleich erledigen, dann wäre alles leichter. Oder neulich auf der Firmenfeier: Wieder nur rumgestanden wie eine vergessene Büropflanze und mit Unbehagen auf eine Gelegenheit zur Flucht gewartet. Wäre ich doch nur etwas extrovertierter, dann könnte sogar eine Feier mit den Kollegen Spaß machen.

Zwischen dem erwünschten und dem erlebten Selbst klafft meist eine große Lücke. Offenbar gilt das für die überaus meisten Menschen. Und da ist es kein Wunder, dass der Wunsch nach Veränderung der eigenen Persönlichkeit sehr weit verbreitet ist, wie Psychologen um Nathan Hudson gerade in einer aktuellen Studie im Fachjournal Social Psychology and Personality Science schreiben.

Die meisten Menschen möchten gerne introvertierter sein

Natürlich steckt dahinter das Bedürfnis nach Anerkennung: Die Änderungswünsche, so berichten die Forscher, richten sich auf sozial erwünschte Dimensionen von Persönlichkeit. Die meisten Menschen möchten gerne extrovertierter, verträglicher, offener, ausgeglichener und gewissenhafter werden. Je nach Studie äußern bis zu 90 Prozent der Befragten entsprechende Wünsche.

Es ist gut möglich, dass diese Veränderungsträume ein kleines bisschen in Erfüllung gehen könnten: Ein gewisser Anteil der Persönlichkeit lässt sich wohl entsprechend eigener Vorstellungen formen und ändern, wie nicht nur die Wissenschaftler um Hudson berichten.

Das klingt tröstlich, wirft jedoch mindestens drei Fragen auf: Wie genau lassen sich charakterliche Macken abschleifen? Ist das in Zeiten permanenten individuellen Optimierungsdrucks nicht das endgültige Ticket in den Wahnsinn? Und wenn Psychologen eine Veränderung der Persönlichkeit messen, ist das für einen Menschen überhaupt relevant oder nur ein abstrakter Wert in einer Studie?

Persönlichkeit setzt sich aus den weitgehend stabilen Gedanken-, Gefühls- und vor allem Verhaltensmustern eines Individuums zusammen, die es von anderen Menschen abhebt. Das Konzept ist zu großen Teilen etwas Relatives: Es beschreibt, wie ein Mensch sich von anderen unterscheidet.

Lange hatten sich die Psychologen in Extrempositionen verschanzt

Das am weitesten verbreitete Modell setzt auf fünf Faktoren, um Persönlichkeit darzustellen, die sogenannten "Big Five": Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus. Mit einem Mix aus diesen Dimensionen lässt sich der Charakter eines Menschen recht treffend beschreiben, das Big-Five-Modell ist Ergebnis jahrzehntelanger Forschung.

"Die Persönlichkeitspsychologie hat sehr viel Evidenz dafür zusammengetragen, dass sich Persönlichkeitsmerkmale ein Leben lang verändern", sagt Wiebke Bleidorn von der University of California in Davis. Diese klare Aussage ist ein deutlicher Fortschritt: Lange hatten sich die Akteure dieser Unterdisziplin der Psychologie in gegensätzlichen Extrempositionen verschanzt. Eine Seite argumentierte, Persönlichkeit sei starr und fixiert; die andere setzte dem entgegen, dass Charakter rein situationsbedingt und fast beliebig sei.

Eine Mischung aus beiden Positionen trifft zu. Das Erbgut setzt einen Rahmen oder zieht einen Zaun um einen Charaktergarten, innerhalb dessen sich Spielraum befindet, um Beete anzulegen und verschiedene Blumen zu pflanzen. Sich vollkommen neu zu erfinden, ist demnach allenfalls Wunschtraum und Lockmittel aus dem Reich der Selbsthilfegurus.

Eine perfektionistische Buchhalterseele mit einem Hang zu antisozialen Wutanfällen wird sich höchstwahrscheinlich niemals in einen überaus angenehmen und kreativen Chaos-Künstler verwandeln. Aber auch dieser zornige Perfektionist kann vielleicht einige seiner Dämonen zähmen und wird sich zugleich weitgehend treu bleiben. Was genau Umwelt und Erbgut dazu beitragen, kann die Forschung für ein spezifisches Individuum nicht sagen.

Wichtig ist der Übergang von der Schule in die Universität

Der Einfluss der Gene auf den Charakter wirkt in den ersten Jahren einer Biografie am deutlichsten. "Im jungen Erwachsenenalter verändert sich Persönlichkeit dann besonders stark", sagt die Persönlichkeitspsychologin Bleidorn. Die Lebensphase zwischen etwa 18 und 40 Jahren konfrontiert das Individuum mit unzähligen Herausforderungen, Rollenerwartungen und neuen Erfahrungen.

Der Übergang von der Schule in die Universität oder den Beruf, die ersten Beziehungen, die Geburt eigener Kinder und viele andere biografische Großereignisse hinterlassen Spuren in der Seele und grätschen damit der DNA ein bisschen in die Doppelhelix - wenn man so will.

Die charakterliche Entwicklung der meisten Menschen gleicht sich in dieser Phase. "Das nimmt in der Regel eine positive Richtung", sagt Bleidorn. Die meisten jungen Erwachsenen werden weniger neurotisch, also emotional stabiler. Sie werden gewissenhafter und ein klein wenig verträglicher.

Die emotionale Stabilität lässt nach

Sie entwickeln sich zu dem, was man "produktive Mitglieder einer Gesellschaft" nennt - nicht alle, aber die meisten, und sie alle starten von verschiedenen Ausgangspunkten. Neue Rollen erfordern neues Verhalten. Das kann Gewohnheiten wecken, die dann so in Fleisch und Blut übergehen, dass sie Teil des Charakters werden.

"Die spannende Frage ist, welche Lebensereignisse sich wie auf die Persönlichkeit auswirken", sagt Bleidorn. Dazu existieren mittlerweile viele Studien, und doch ergibt sich daraus kein eindeutiges Bild. Die bisherigen Ergebnisse legen nahe, dass vor allem die erste romantische Beziehung sowie das Ende der Ausbildungszeit den deutlichsten Einfluss auf den Charakter haben.

Mit diesen biografischen Übergängen geht eine Steigerung von Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, Offenheit für Erfahrungen sowie - etwas geringer - emotionaler Stabilität einher. Die Auswirkung einer Trennung sind hingegen unklar. Auch die Befunde darüber, wie sich die Geburt von Kindern auf den Charakter der Eltern auswirkt, sind ambivalent. Am ehesten lässt sich derzeit wohl sagen: Die Effekte sind erstaunlich klein für ein derart großes und einschneidendes Erlebnis.

Für den Verlauf einer Biografie haben Persönlichkeitsmerkmale hohe Vorhersagekraft: Bildungserfolg, Karriere, Einkommen, Zufriedenheit im Job, Verlauf von Beziehungen, Entwicklung der Gesundheit und andere nicht ganz unwesentliche Zutaten eines gelungenen Lebens hängen damit zusammen. "Persönlichkeit beeinflusst so gut wie alle Bereiche, und zwar deutlich", sagt Bleidorn.

Man bräuchte mehr Wissen über Psychotechniken

Sollte man Charakterzüge also nicht als Ziel von Interventionen ins Visier nehmen, um Menschen zu helfen, fragt die Psychologin zusammen mit Kollegen in einer Arbeit im Fachblatt American Psychologist. Das ist auf der einen Seite ambitioniert, weil sehr, sehr mühsam und zäh, auf der anderen Seite aber auch vielversprechend, eben weil Persönlichkeit sowohl sehr stabil als auch wandelbar ist: Derartige Veränderungen wären dann nachhaltig im Menschen verankert. Aber wie lässt sich das anstellen?

Das ist nun der Punkt, an dem ein am Seitenrand stehender Beobachter in amüsiertes Staunen abgleiten könnte: Offenbar hat sich in der Persönlichkeitspsychologie lange Zeit niemand systematisch Gedanken gemacht, wie so etwas funktionieren könnte. Hat der grundsätzliche Streit über die Wandelbarkeit von Persönlichkeit alle Aufmerksamkeit und Energie abgezogen?

"In der Persönlichkeitspsychologie herrscht ein eindeutiger Mangel an Forschung dazu, mithilfe welcher Techniken Persönlichkeitsmerkmale verändert werden können", schrieben Psychologen um Brent Roberts 2017 in einer Meta-Analyse im Fachjournal Psychological Bulletin. Welche Interventionen auf Persönlichkeit wirken könnten, stammen hingegen aus der klinischen Psychologie. In Forschungen zu verschiedenen Formen der Psychotherapie haben Wissenschaftler - zum Glück, muss man wohl sagen - oft auch Persönlichkeitsentwicklungen mit abgefragt und gemessen. In der Mehrzahl der Studien ging es um Depressionen, Angst- oder Essstörungen.

Effekte zeigen sich am Anfang einer Therapie

Die Behandlung solcher Psychopathologien hatte auch messbare Auswirkung auf die Persönlichkeit, natürlich aber auf Dimensionen, die in Zusammenhang damit standen: Die emotionale Stabilität verbesserte sich, ebenso Extraversion. In den meisten Fällen, so berichten die Psychologen um Roberts, zeigten sich die deutlichsten Effekte innerhalb des ersten Monats der Therapie.

Bei allen Interventionen sei es eine relevante Frage, wie lange Änderungen anhielten, sagt die Persönlichkeitspsychologin Julia Rohrer von der Universität Leipzig. "Vielleicht ändert sich für einige Wochen etwas, aber dann ebbt der Effekt eventuell wieder ab."

Das gilt auch für die wenigen Befunde aus nichtklinischen Settings: Achtsamkeitssitzungen, das Training neuer Fertigkeiten oder Kreuzworträtsel und Sudoku-Übungen für Senioren haben in Untersuchungen persönlichkeitsändernde Effekte gezeigt. Sicher ist: Die Effekte sind klein; ungewiss ist, wie stabil sie sind.

Harte Regeln und klare Erwartungen sind hilfreich

Eine Faustregel für all die hadernden Veränderungswilligen bietet die Wissenschaft dennoch an. Die beiden Forscher Terrie Moffitt und Avshalom Caspi haben diese als Paradoxon formuliert: Demnach kann sich Persönlichkeit dort am besten entfalten, wo Verhaltensregeln besonders eng und Rollenerwartungen hoch sind.

Das klingt zunächst schräg. Braucht ein Charakter nicht Freiheit, um Ballast abwerfen zu können? "Wenn unklar ist, wie man sich in einer Situationen zu verhalten hat", sagt die Persönlichkeitspsychologin Jule Specht von der Humboldt-Universität Berlin, "fällt man besonders leicht in seine bewährten Muster."

Wer es mit seinen Macken aufnehmen will, muss sich ihnen stellen und die Komfortzone verlassen - und das am besten in einem Umfeld, in dem die Spielregeln glasklar formuliert sind. Wie nachhaltig das dann auf den Charakter wirkt, weiß die Forschung nicht. Aber gewiss ist, dass sich so neue Fertigkeiten lernen oder Ängste besiegen lassen: Konfrontation mit klarem Rahmen.

Die ideale Persönlichkeit gibt es nicht

Muss das sein, muss jeder neben Fitnessstudio und Power-Diät auch noch zum Architekt seiner Persönlichkeit werden? "Es ist sehr gut, dass sich die Menschen in ihren Eigenheiten unterscheiden", sagt Specht, "so etwas wie eine ideale Persönlichkeit gibt es ohnehin nicht, auch nicht in der Arbeitswelt."

Was ein Beruf charakterlich erfordert, ist in einem anderen vielleicht hinderlich - je nach Persönlichkeit fallen dem einen kreative Tätigkeiten leicht, dem anderen Verwaltungsarbeit. "Gäbe es eine optimale Persönlichkeit, hätte sich das vermutlich schon irgendwie evolutionär durchgesetzt", sagt auch Rohrer.

Jedes Umfeld lässt verschiedene Persönlichkeiten blühen. Die hochkomplexen, arbeitsteiligen Gesellschaften der Gegenwart bieten so viele Nischen, dass sich - tröstlicher Gedanke - vermutlich für fast jeden Charakter ein gedeihlicher Rahmen finden lassen sollte. Wenn nun alle daran arbeiten, sich in gewissenhafte Highperformer zu verwandeln, ist niemandem geholfen.

Wer aber unbedingt an sich arbeiten möchte, könnte sein Zielfernrohr neu justieren: Statt sich an unerreichbaren Vorbildern zu orientieren, könnte er seine Vorstellung von einem idealen Selbst modifizieren. Aber womöglich wäre das nur eine andere Form der Persönlichkeitsarbeit: Auch die Neigung zu Selbstkritik zählt zu den Zutaten eines Charakters. Glücklich ist eher, wer davon wenig in sich trägt.

Weniger…