Die Wahrheitskrise


Sendung 3sat Verfügbar bis 20. Oktober 2021 >> LINK 

Jakob Augstein unterwegs in Corona-Deutschland. Woran glauben wir als Gesellschaft noch? Was ist unser kleinster gemeinsamer Nenner? Der Begriff Wahrheit jedenfalls ist zuletzt unter Beschuss geraten. Was bedeutet Wahrheit?


Was ist wahr, was ist falsch? Ist Wissenschaft gleich Wahrheit? Die Corona-Krise hat erneut gezeigt, wie gespalten zumindest die öffentliche Meinung in diesem Land ist. Nach den gesellschaftlichen Umwälzungen der Migrationskrise hat der Kampf um Deutungshoheit im Zuge der Virus-Bekämpfung nochmals neue Ausmaße angenommen: Was sind die Fakten, an die wir als Gesellschaft noch einheitlich glauben? Gab es die je? Und was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn das Modell der „alternativen Fakten“ um sich greift?                                                       

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, begibt sich der Verleger und Journalist Jakob Augstein auf eine Reise durch unser Land.  

Er trifft mit Hendrik Streeck eines der prominentesten Gesichter der Corona-Krise. Der Virologie-Professor an der Uniklinik Bonn erzählt im Gespräch mit Jakob Augstein, wie es sich anfühlt, wenn eine gesamte Nation auf einen blickt, um „die Wahrheit“ über das Virus zu erfahren. Wie erschreckend ist es, wenn man als Wissenschaftler plötzlich aggressiv angefeindet wird, weil man statt einer absoluten Wahrheit nur Erkenntnisse mit angesagt begrenzter Haltbarkeit über das Virus verkünden kann? Mit dem SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach spricht Jakob Augstein über die Kommunikationsleistung der politischen Akteur*innen. Wurde in dieser neuen existentiellen Erschütterung glaubwürdiger agiert, als zur Zeit der Migrationskrise? Mit dem ehemaligen Innenpolitikchef der „Süddeutschen Zeitung“, Heribert Prantl, debattiert Augstein wiederum über die Rolle der Medien in der Corona-Krise  und die Erkenntnistheoretikerin Elke Brendel umreißt im Gespräch, was Wahrheit philosophisch überhaupt meint und welche Bedeutung das Konstrukt für eine Gesellschaft hat. Die Fridays-For-Future-Aktivistin Line Niedeggen hofft hingegen, dass der Bedeutungszuwachs der Wissenschaft im öffentlichen Diskurs auch Auswirkungen auf ihren Kampf gegen den Klimawandel hat.  

Was ist Wahrheit zu Corona-Zeiten

Von KLAUS SCHROTTHOFER https://www.facebook.com/klaus.schrotthofer

Ein Facebook-Freund wollte mich für einen Redner der jüngsten Corona-Demo begeistern, der von den Medien ignoriert worden sei. Ich habe widersprochen und er hat mich gefragt: „Wer kennt die Wahrheit?“  Weil mir so etwas immer häufiger begegnet, poste ich meine Antwort auch hier. 

Lieber N., „wer kennt die Wahrheit?“, fragst Du mich. Nein, auch ich kenne nicht „die Wahrheit“. Aber ich habe in meinem ursprünglichen Beruf als Journalist gelernt, zu recherchieren, Informationen einzuordnen und zu bewerten. Bewerten heißt in diesem Zusammenhang nicht, sie zu kommentieren, sondern die Plausibilität von Informationen einzuschätzen. So arbeiten nach meinem Verständnis Qualitätsmedien – und weil Du dieses Wort in Anführungszeichen setzt, gestatte mir auch diese Bemerkung: In meinem gesamten Berufsleben bei sehr unterschiedlichen Medienhäusern bin ich noch nie aufgefordert worden, im Interesse einer übergeordneten Instanz etwas Unwahres zu verbreiten. Medien in Deutschland sind allem „Lügenpresse“-Geschrei zum Trotz frei. Gewiss nicht fehlerfrei, aber frei, zu entscheiden, was und wie sie berichten. Und das unterscheidet deutsche Qualitätsmedien von staatlich gelenkten Propaganda-Kanälen wie dem russischen Auslandssender RT oder Krawall-Kanonen wie der „Bild“. Ich habe nicht selten um „meine“ Wahrheit gestritten, musste die Richtigkeit meiner Berichte belegen und erklären, worin die Relevanz einer Nachricht für einen größeren Empfängerkreis besteht. Und genau das tun Tausende von Journalistinnen und Journalisten im ganzen Land jeden Tag. Nicht fehlerfrei. Aber frei. Und das unterscheidet sie von vielen, die bei Facebook und anderswo ungeprüfte oder unüberprüfbare Behauptungen in die Filterblasen pumpen und sie damit zu ungeheurer Größe aufblähen.

Es ist nicht immer einfach zu erkennen, was wahr und unwahr ist. Die Perspektive kann zu unterschiedlichen Wahrheiten führen. Es gibt keine absolute Objektivität. Unsere Wahrnehmung wird immer beeinflusst sein von der eigenen Geschichte, von Erfahrungen, Ängsten oder Hoffnungen. Das ist normal und völlig in Ordnung. Im Journalismus freilich gibt es Regeln, die ein möglichst hohes Maß an Objektivität und Wahrhaftigkeit sicherstellen sollen. Daran halten sich nach meiner Erfahrung die allermeisten Profis. Sie leben nämlich, und das ganz wörtlich, von ihrer Glaubwürdigkeit.

Die Wahrheit zu erkennen, ist natürlich kein Privileg von Journalisten. Manchmal hilft schon schlichter Menschenverstand, am besten in Verbindung mit einer gesunden Skepsis gegenüber allem, was besonders spektakulär daherkommt. Ich finde grundsätzlich, dass jede Aussage belegbar sein sollte. Wenn es um Behauptungen geht, die dem allgemeinen Wissenstand fundamental entgegenstehen, erwarte ich besonders gute, plausible und nachprüfbare Belege. Das ist auch der Grund, warum ich nicht glaube, dass Bill Gates die Weltbevölkerung beherrschen, mit Chips versehen oder gar ausrotten will. Ich glaube auch nicht, dass die 5G-Technologie erfunden wurde, um die Menschheit zu versklaven. Ich glaube nicht an eine geheime (jüdische?) Weltregierung, ich glaube nicht an unterirdische Kinderlager, aus denen eine Elite sich mit Menschenblut versorgt. Ich glaube nicht, dass eine finstere Macht die Bundesregierung wie Marionetten steuert. Ich glaube auch nicht, dass diese Bundesregierung – in wessen Auftrag auch immer – eine Pandemie erfunden hat, um unser politisches oder wirtschaftliches System zu verändern. Ich glaube das alles nicht, weil ich manche der handelnden Personen persönlich kenne. Ich glaube es nicht, weil ich bisher keinen einzigen überzeugenden Beleg dafür gefunden habe. Ich glaube es nicht, weil eine große Zahl von belegbaren Fakten dagegen spricht. Und ich glaube es nicht, weil ich es für sehr unwahrscheinlich halte, dass ausgerechnet die mir bis vor kurzem völlig unbekannten Galionsfiguren der aktuellen Protestbewegung eine gigantische Verschwörung aufgedeckt haben, die die gesamte freie Welt bislang nicht bemerkt haben soll.

Das heißt nicht, dass ich „die Wahrheit“ kenne. Auch ich bin verunsichert von den Auswirkungen dieser Pandemie und ich bin davon überzeugt, dass es auch jenen so geht, die in dieser Zeit so weitreichende Entscheidungen zu treffen haben. Wir wissen noch immer zu wenig über das Corona-Virus und mit fortschreitendem Wissenstand ändern sich auch die Einschätzungen der Wissenschaft. Ich finde nicht alle Maßnahmen, die in Deutschland ergriffen wurden, angemessen und plausibel. Ich verstehe und teile nicht alle Äußerungen der Politik. Aber ich glaube nicht, dass Sadismus, Niedertracht oder die Lust am Zusammenbruch das Handeln der Regierenden leitet. Vielmehr habe ich den Eindruck, dass die Mitglieder von Bundes- und Landesregierungen sich ehrlich bemühen, unter ständig sich verändernden Bedingungen die richtigen Entscheidungen zu treffen, um uns halbwegs sicher durch diese beispiellose Zeit zu bringen. Natürlich sind auch sie nicht fehlerfrei und natürlich darf und soll man sie für Fehler kritisieren. Aber die Maßlosigkeit der Angriffe der so genannten Corona-Gegner erschreckt und beunruhigt mich. Und wütend macht mich die Gedanken- und die Rücksichtslosigkeit, mit der viele Menschen derzeit auf alles einschlagen, was dieses Land bisher zusammengehalten und zu einem der privilegiertesten Orte weltweit gemacht hat. Mich stört die Anmaßung, die aus so vielen verbreiteten Halb- und Unwahrheiten spricht, mich besorgt die Aggression, die so viele Wortmeldungen durchzieht – und die immer häufiger in realer Gewalt explodiert.

„Wer kennt die Wahrheit?“, fragst Du. Ich kenne „die Wahrheit“ so wenig wie Du. Ich kenne Teil-Wahrheiten und ich messe sie ständig neu an der sich verändernden Wirklichkeit. Auch meine Überzeugungen reiben sich immer wieder an dieser Wirklichkeit. Manches aber muss und will ich nicht in Frage stellen. Ich bin davon überzeugt, dass eine wirklich freie Gesellschaft nur mit Anstand, Respekt, Toleranz und Solidarität funktionieren kann. Ich bin davon überzeugt, dass die Radikalen, die Nazis, die Menschenfeinde, die ich am Wochenende in Berlin gesehen habe, keinen Beitrag zu einer freien Gesellschaft leisten können. Das halte ich für eine Wahrheit – und darüber wollte ich Dir schreiben.

Welche Rolle spielen heute Google und Co

Die empörte Republik             

Wo entstehen die Debatten von heute? Wer sind die Vordenker und Meinungsführer? Es hat sich viel gewandelt in den letzten Jahren im öffentlichen Diskurs. 3sat verfügbar bis 22. November 2020 >> LINK

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, begibt sich der Verleger und Journalist Jakob Augstein auf eine filmessayistische Reise durch die Republik.                                                                                                    

Er begegnet dabei Publizisten alter Schule, wie Stefan Aust und Jan Fleischhauer. Sie kennen die Zeit der alten Debatten noch, in der einige wenige die Diskursherrschaft innehatten. Der langjährige Spiegel-Chefredakteur Aust blickt im Gespräch mit Jakob Augstein zurück: „Es ist zweifellos der Fall, dass die Debatten früher eleganter geführt wurden als heute. Das ist ja auch der Nachteil der Demokratie. Jeder Idiot darf wählen und jeder Idiot darf im Zweifel auch gewählt werden. Warum sollte dann nicht auch jeder Idiot im Internet seine Meinung veröffentlichen dürfen?“                                                                                                                                                                                                

Nur was folgt aus dieser Analyse? Braucht es eine Neuordnung des Diskurses? Jan Fleischhauer attestiert der heutigen Zeit etwas Sektiererisches, „das vor allem von der Linken ausgeht“. Werden die akzeptierten Meinungskorridore immer enger – und falls ja, woran liegt das?                                                                                                             

Beim Besuch des Google-Büros in Berlin fragt Jakob Augstein im Gespräch mit NewsLab-Chefin Isabelle Sonnenfeld nach der Verantwortung der großen Tech-Konzerne: Beeinflussen Google, Facebook & Co. nicht mittlerweile unsere gesellschaftlichen Debatten? Was es bedeutet, wenn eine Debatte im Netz entsteht, dort befeuert und begleitet wird, hat die ehemalige Europaabgeordnete Julia Reda im Rahmen des Urheberrechts-Streits erfahren. Beim Besuch in Brüssel berichtet sie Jakob Augstein, welche Vor- und Nachteile Onlinekommunikation aus ihrer Sicht hat.                                                 

In Ihrem Film spüren Jakob Augstein und Tim Klimeš (Regie) den Gründen für die zunehmende Polarisierung unseres Diskurses nach, analysieren die Möglichkeiten und Fallstricke der neuen Debatten-Architektur und sprechen auch über Phänomene wie das Rezo-Video oder die Fridays For Future-Bewegung  – und über die Folgen für unsere Demokratie.